Putschversuch in der Türkei

Gestern Abend und in der Nacht den Putschversuch in der Türkei auf Twitter mitverfolgt. Ein irreales Erleben und ein seltsames Gefühl. Nach 22 Uhr auf die ersten Tweets aufmerksam geworden, die die Sperrung der beiden großen Brücken in Istanbul meldeten. Kaum ein paar Minuten später die ersten Vermutungen, es könnte sich um einen Putschversuch handeln.

Bei mir setzt in Krisensituationen immer der utopische Wunsch ein, es könnte wie durch ein Wunder alles gut werden. Alles. Auch das, was vorher nicht gut war. So auch gestern für einige Minuten ein Herzstolpern und das Bedürfnis nach einer neuen, besseren Türkei.

Mein Türkeiverständnis ist grottig, das muss ich voraus schicken, und wie die aller meisten Menschen im deutschsprachigen Raum, weiß ich nur sehr wenig über die Kräfte und Bewegungen innerhalb der Türkei. In dieser Nacht habe ich ein bisschen mehr darüber gelernt. Ein winziges bisschen. Es beruhigt mich nicht.

Noch mal zurück auf den gestrigen Twitter-Abend. Sofort wurden wieder die ersten Stimmen laut, die nach Berichterstattung in den öffentlich-rechtlichen Medien riefen. Übellaunig und rechthaberisch. Ich ertappe mich dabei, dass auch ich mir das wünsche. Eine kompakte Sendung, die mir die Welt erklärt. Zu der ich mich positionieren kann. Nur wie soll das gehen, wenn die Welt gerade aus den Fugen ist? Erdogan war eine zeitlang abgetaucht. Was ist ein Generalstabschef? fragte ich mich und warum wird er als Geisel genommen? Das türkische Staatsfernsehen wird eingenommen, es werden Erklärungen verlesen. Später wird ein Studio gekarpert, aber den Soldaten gelingt es nicht – oder war es Absicht? – der Ton läuft weiter. Ein menschenleeres Studio, das einige Zeit nur die Tonspur des Putsches sendet. Gespenstig.

Auf Twitter finde ich langsam Twitterer, die mir helfen zu verstehen, was sich ereignet. Journalistinnen, die sich ihrer Profession und diesem besonderen Land verpflichtet sehen. Danke, Aslin Sevindim! Danke, Damla Hekimoglu!

Was ist das in diesen Tagen?, frage ich mich. Was sind das für Tage am europäischen Abgrund? Die westliche Politik hält sich zurück, bis sich Obama meldet – und jetzt suche ich seinen Tweet und kann ihn nicht finden, dabei könnte ich schwören und so – die westliche Politik schweigt eine Weile und erst gegen Morgen als der Putschversuch scheitert, melden sie sich und sprechen von Demokratie und demokratischen Strukturen. Aber im Grunde ist das doch alles egal, Hauptsache sie haben einen Vertragspartner, der ihnen die Flüchtlinge auf Distanz hält, das ist das Maß aller Dinge in diesen Tagen.

Ich mag kein Militär. Auch keins das putscht. Aber ich mag auch keine faschistische Systeme oder faschistische Strukturen. Zu viele dieser Systeme haben unter dem Deckmäntelchen der Demokratie begonnen. Mir macht das Angst. Ich habe Angst um das zerbrechliche Europa. Es ist zerbrochen vor unseren Augen, nur liegen die Scherben noch dicht nebeneinander, so dass es den Anschein hat, es gäbe noch ein ganzes Stück.

Alle sagen Erdogan geht gestärkt aus dieser Situation. Ein „Säuberungswelle“ läuft schon heute an. Ganz viele Richterinnen und Richter werden abgesetzt. Ob das Wort säubern auf türkisch nicht diesen unheimlichen Klang hat, frage ich mich jetzt.

Vielleicht gibt es etwas, das ich übersehe, das diesen Tag etwas heller macht.

Vielleicht gibt es eine Erklärung, warum keine Frauen zu sehen sind?

Vielleicht?

 

 

 

 

 

Comments (2)

Jens BertramsJuli 16th, 2016 at 17:04

Danke, du sprichst mir aus der Seele. Ich habe auch die halbe Nacht auf Twitter gelesen, habe aber nichts geschrieben, weil ich nichts mehr zu sagen wusste. Auch deine einschätzung zu Europa teile ich. Die Welt, in der ich aufgewachsen bin, ist aus den Angeln gehoben, und das macht Angst.

claudiaJuli 16th, 2016 at 17:07

Das ist so schrecklich mit anzusehen.

Leave a comment

Your comment

Kommentarlinks könnten nofollow frei sein.