Tagebuch schreiben

Claudia Klinger erläutert, warum sie kein privates Tagebuch schreibt – inspiriert durch den Blog-Eintrag bei Thinkabout.
Ich denke oft über das Tagebuch schreiben nach – vorallem unter dem Aspekt, was für ein Privileg es ist, eins schreiben zu können; es aufbewahren zu können. So selbstverständlich ist das nicht. Für mich sind Tagebücher die liebste Literatur, gleich nach Briefen und Biogafien kommen sie seit ein paar Jahren noch vor den Romanen und Geschichten. Wo sich Gedichte in der Reihe einordnen lassen, kann ich nicht sagen.
Manchmal wünschte ich mir, ich könnte mein Blog ein bisschen mehr tagebuch-artig schreiben. Aber da schaltet sich sofort wieder der Zensurgedanke ein: Das geht doch gar nicht!
Warum nicht? Sofort fallen mir zehn oder zwanzig Gründe ein, warum das nicht geht. Aber ich weiß, dass die meisten Gründe davon nur vorgeschoben sind. Klar ginge das. Aber es käme ein anderes Schreiben heraus. Auch ein anderes Schreiben, als in meinen Kladden, die ich endlich seit ein paar wenigen Jahren Zug um Zug vollschreibe.

Das Privileg des freien Lebens. Die Freiheit etwas sagen zu können und nicht ständig Angst zu haben, ich könnte jemand auf die Füsse treten. Unbeabsichtigt. Gestern abend habe ich mich plötzlich gefragt, was mit meinen Tagebüchern geschehen wird, wenn ich gestorben bin.
Eine Antwort darauf ist mir nicht eingefallen.

Nachtrag:

Ein Mensch, der kein Tagebuch hat, ist einem Tagebuch gegenüber in der falschen Position.
Gerade habe ich dieses Kafka Zitat aus seinem Tagebuch gefunden, das beschreibt die Diskussion ums Tagebuch ganz gut.

Comments (11)

WildgansApril 4th, 2010 at 16:10

deine letzten sätze- ja, darüber denke ich auch oft nach. weil ich nicht will, dass z.b. meine kinder darin lesen. wahrscheinlich denke ich soooo lange darüber nach, bis es zu spät ist- und lieber werfe ich sie weg, oder verbrenne sie- aber das mag ich auch noch nicht machen, weil es derzeit mir so gut tut, darin zu lesen…welche lösung könnte es geben?

ClaudiaApril 4th, 2010 at 16:27

Vor kurzem habe ich die Tagebücher von Susan Sontag gelesen. Sie wurden von ihrem Sohn herausgegeben, das hat mich ein bisschen irritiert. Obwohl es doch nicht so selten vorkommt, dass Angehörige die hinterlassenen Papiere sortieren und editieren.

Nein, ich weiß keine Lösung. Sie vielleicht an das Tagebucharchiv http://www.tagebucharchiv.de/index.html
weiter geben und dort verfügen, dass sie erst nach einer gewissen Zeit freigegeben werden?

JürgenApril 4th, 2010 at 17:24

„Der Mensch stirbt, seine Habe bleibt“, hieß es bis vor ein paar Jahren in dem juristischen Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch „Palandt“. Der Satz stand tratitionell ganz zu Beginn der Kommentierung zum Erbrecht. Dann fiel er der Redaktion zum Opfer. — Zum Thema: Wenn Du stirbst, gehen auch Deine Tagebücher in das Eigentum Deines oder Deiner Erben über. Wenn Du möchtest, daß sie dann vernichtet werden und wenn Du Deinen Erben insoweit nicht traust, könntest Du einen Testamentsvollstrecker einsetzen, der dies dann veranlaßt. — Allerdings könnte dann auch vieles verloren gehen, was anderen erhaltenswürdig erscheint, was Folgeprobleme aufwirft: Wäre es besser gewesen, Max Brod hätte Kafkas Nachlaß vernichtet, statt ihn — auftragswidrig — zu veröffentlichen?

ClaudiaApril 5th, 2010 at 00:02

Ich würde mir keine Sorgen um die Nachwelt machen, was meine Aufzeichnungen angeht – aber im Grunde kann ich da nicht wirklich mitreden, weil ich sowieso nur öffentlich schreibe.

Immerhin meine ich, mich in dieses Dilemma einfühlen zu können und denke mir halt dazu: es ist die Angelegenheit derjenigen, denen der Nachlass zufällt, was sie damit anfangen. Die Vorstellung, dass jemand neugierig liest, was ich „geheim“ verfasst habe, ist mir sogar eher sympathisch: da wirkt man immerhin noch ein wenig weiter… 🙂

Mit meinen Nächsten bin ich auch soweit im Reinen, dass da keine totalen Brüche zu gewärtigen wären: mal so ein kleiner Stress und Ärger im Alltag – wer hat den nicht? Und große philosophische Gegenstrebigkeiten lebt man sowieso zu Lebzeiten von Angesicht zu Angesicht aus. Da könnte es bei mir nichts Überraschendes geben.

Vor einigen Jahren hab ich mal (im Rahmen eines Schreibimpulse-Kurses) voraus geträumt, wie es wäre, wenn ich plötzlich ablebe und irgendjemand macht sich dann dran, mal meinen PC zu sichten – wer mag:

* Mein Nachlass im PC
http://www.schreibimpulse.de/kurs03a/claudia1.html

ClaudiaApril 5th, 2010 at 08:51

@Jürgen: Max Brod hat sich zum Glück für uns als Literaturverwerter und -verwalter erwiesen und nicht als Testamentsvollstrecker. Franz Kafka schien die Entscheidung über die Papiere einfach nicht selbst tragen zu wollen. Er wusste, dass er früh sterben würde und hat sie nicht selbst vernichtet bzw. sie vernichten lassen. Als Jurist kannte er auch sicher alle erbrechtlichen Möglichkeiten, das sicher zu stellen.

@Claudia: Ich kann sehr gut verstehen, dass es persönliche Konstellationen in Familien gibt, in denen man sich Sorgen über die schriftlichen Hinterlassenschaften macht. Für mich trifft das in meiner Lebenssituation nicht zu. Zum Glück kann ich da nur dazu sagen. Die Frage, was mit den Papieren geschieht, ist für mich eher ein Stück Neugierde.
Aber jetzt, wo ich länge darüber nachgedacht habe, würde ich die Sachen auch an eins der Tagebucharchive geben.

wortmeerApril 5th, 2010 at 09:33

Danke für die Anregung. http://wortmeer.twoday.net/stories/6274946/

Über die Frage des ‚Nachlasses‘ denke ich noch nach…

Einen schönen Ostermontag wünscht
das wortmeer

audriiApril 6th, 2010 at 01:19

Liebe Claudia.

Weblog und Tagebuch sind fuer mich zwei ganz verschiedene Dinge; daher schreibe ich beides. Das Tagebuch ist das Archiv, es entlastet mein Gedaechtnis.

Ich schreibe es nur aeusserst selten mit der Hand. Ich habe alles auf Speichermedien, kann daher auch jederzeit nach Namen, Ereignissen, Lektueren, Filmen, Gespraechsnotizen etc. suchen und eventuell in einen neuen Zusammenhang bringen.

Ich dokumentiere mich selbst fuer mich. Es geht um die Authentizitaet. Wenn ich in der Gegenwart leben und mich in einem bestimmten Moment in der Vergangenheit betrachten will, kann nur eine Aufzeichnung von damals ueber mich wirklich Auskunft geben. Ich vertraue also mehr meinem Tagebuch als meinem Gedaechtnis.

Mich erstaunt, dass die Frage des Nachlasses bei manchen eine grosse solch Rolle spielt. Nichts wird bleiben ausser dem, was der Zufall uebersieht. Derzeit lebe ich und muss, wie Sie auch, mit Zwaengen und Notwendigkeiten zurechtkommen. Wenn das einigermassen befriedigend gelingt, ist es genug „Gnade“! 😉

Bonnui ! Audrii

ClaudiaApril 6th, 2010 at 20:14

@Audrri: Mit der Hand schreibt es sich ganz anders, daher wechsle ich immer wieder ab. Manche Dinge schreibe ich in die Kladde, andere in den PC.
Die Frage des Nachlasses ist auch eine Frage der Intimität des Geschriebenen. Wen verletzte ich vielleicht mit dem Geschriebenen, wer könnte sich hintergangen fühlen oder wer mißversteht das Geschriebene?
Je nach Lebenssituation kann das eine große Rolle spielen.

schreiblingSeptember 10th, 2010 at 14:04

Ich bin gerade auf diese Seite gestoßen und muss sagen, dass ich die Frage, die hier gestellt wurde, sehr interessant finde. Aber ich kann mir nicht vorstellen, dass in einem Tagebuch so schlimme oder verletzende Dinge stehen könnten, sodass die Angehörigen oder Bekannten wütend auf eine, in diesem Fall, tote Frau sind.

ClaudiaSeptember 10th, 2010 at 15:57

Was ist schon schlimm? Verletzen können sehr viele kleine Dinge. Wenn ich in meinem Tagebuch sehr offen schreibe, dann kann es durch aus sein, dass diese Intimitäten anderen Menschen weh tun. Das müssen keine Verbrechen oder auch kein Verrat sein. Es sind die kleinen Dinge, die an der Seele nagen.

morgen~tropfen « wortmeerApril 1st, 2011 at 11:41

[…] ich schreibe weiter. Denke an die Zeilen von Claudia. Sie schrieb gestern ein paar Gedanken zum Tagebuch schreiben. Tagebuch schreiben, Tagebuch bloggen… Ach, dazu mag ich jetzt nichts denken, habe ich es […]

Leave a comment

Your comment

Kommentarlinks könnten nofollow frei sein.