Das Poetische blüht im Augenblick

Poesie ist die Kunst, stehen zu bleiben, wenn alles weiter will.

Sie lauert im Summen der Mittagsstille, wenn die Hitze über den Wiesen flimmert. Im surrenden Sekundenbruchteil, bevor die Kaffeetasse deine Lippen berührt. Im flüchtigen Muster, das ein Vogel mit seinen Flügeln in die Luft schreibt – ein Schriftzug, den niemand festhalten kann und der doch in dir weiterwächst.

Heute Morgen, zwischen Mülltonnen und Absperrgitter, blühte ein Löwenzahn durch den Asphalt. Sein Stängel: verbogen, aber nicht gebrochen. Sein Gelb: ein schmutziger Triumph. Ich blieb stehen. Atmete ein. Und plötzlich war da dieses stille Überschwappen – als würde die Welt für drei Herzschläge alles Überflüssige abstreifen. Nur noch Stängel. Gelb. Licht.

So funktioniert es: Das Poetische ist kein Garten, den man anlegt. Es ist das wilde Kraut, das durch Ritzen bricht. Es blüht nicht für uns. Es blüht trotz uns. Und wenn wir uns bücken, um es zu betrachten, wird unsere Seele plötzlich federleicht. Weil wir begreifen:

Wir sind Gäste in einem Universum,
das sich unentwegt in kleinen Wundern entzweit –
nur um uns zu zeigen, wie unendlich viel
in einem einzigen, unbeachteten Atemzug liegt.

Geh heute mit weichen Augen. Der nächste Augenblick trägt vielleicht schon Samenflügel in seinen Händen.

Leave a comment

Your comment

Kommentarlinks könnten nofollow frei sein.