Journal26092025
Ein Jahr der Trauer und des Suchens
Am Sonntag jährt sich der Todestag meiner Mutter. Ein Datum, das wie ein Schatten über mir schwebt, ein Anlass, um noch einmal genauer hinzuschauen auf das Trauerjahr, das mir so unerwartet – im wahrsten Sinne des Wortes – den Boden unter den Füßen weggerissen hat. Über zehn Jahre lang war meine Mutter schwer an Demenz erkrankt, und ihr letztes Lebensjahr war geprägt von purem Leiden. Ihr Tod war also nicht unerwartet, sondern vielmehr das Ende eines langen Abschieds, der sich wie ein zäher Schleier über unsere gemeinsamen Erinnerungen legte.
Nie hätte ich gedacht, dass mich die Trauersymptome so mitreißen würden. Trauer, das war für mich ein Konzept, das in Büchern behandelt wird, in denen von Phasen die Rede ist: vom Verleugnen, von der Wut über das Verlassenwerden. Ich hatte mir Trauer als ein einziges, langes Traurigsein vorgestellt, als ein ständiges Weinen, als viele Tränen, die in einem Meer von schönen Erinnerungen ertrinken. Ich dachte, irgendwann würde ich mein letztes Taschentuch vollgeheult haben, und dann würde es leichter gehen. So dachte ich, bis zu dem Tag, an dem meine Mutter starb und die Trauer meinen Körper voll unter Kontrolle brachte.
Der Boden unter meinen Füßen war nicht mehr stabil genug, und ich fand mich in einer Welt wieder, in der ich Halt suchen musste, um auf der Straße ein paar Meter gehen zu können. Trauersymptome, so lernte ich, können fast alle körperlichen Ausfälle sein. Bei mir war es das Gehen. Ich hatte das vorher noch nie gehört, aber die Medizin versichert es. Trauersymptome. Tag für Tag, Woche für Woche, kämpfte ich mich Schritt für Schritt zurück ins Gehen. Es war ein mühsamer Prozess, der mich an meine Grenzen brachte. Ich wollte wieder sicher sein, frei und leicht, doch der nächste Rückschlag kam immer unerwartet, wie ein Dieb in der Nacht.
Jedes Mal reagierte ich fassungslos und ungläubig. Warum passiert mir das? Warum ausgerechnet mir? Was macht mein Körper mit mir, wenn er mich vollständig aus dem Verkehr zieht? Mich abhängig von Begleitung macht? Warum weine ich nicht, wie andere Menschen das tun, und gut ist? Vielleicht habe ich mir gar nicht so viele Fragen gestellt. Ich war monatelang damit beschäftigt, mir die Welt zurückzuholen. Dreimal insgesamt. Beim dritten Mal war die Sorge, dass ich es dieses Mal nicht schaffe, immer größer. Es wurde jedes Mal schwieriger.
Auf dem Höhepunkt meiner Gehschwierigkeiten reiste ich nach Nordirland, in dem unheimlichen Wissen, dass ich dort keinen Fuß alleine nach draußen setzen kann. Aber das Risiko einzugehen, hat sich gelohnt. Ich bin zurückgekommen, und es waren so harte Wochen. Immer noch habe ich wenig Vorstellung davon, wie das Wechselspiel von Körper und Seele diese Symptome erzeugt. Am Anfang konnte ich es kaum selbst glauben. Was geht da in mir und mit mir vor? Die medizinischen Erklärungen sind dürftig, sehr dürftig. Doch ich habe gelernt, dass es wenig Sinn macht, nach Definitionen, Diagnosen und Erklärungen zu suchen.
Mir half nur, mich selbst aufzurichten und mich Schritt für Schritt wieder in Sicherheit zu bringen. Tag für Tag. Ich weiß nicht so recht, wie der Jahrestag auf mich wirken wird. Gelernt habe ich jedoch, dass Erinnerungen und Wiederholungen die Symptome auch wieder neu beleben können. Es könnte also sein, dass es wieder schwierig wird. Vielleicht. Nichts ist sicher. Das habe ich in diesem Jahr gelernt. Sicherheit ist etwas, was ich mir erkämpfen muss. Sie ist nicht einfach da, wie ein vertrauter Freund, der immer an meiner Seite steht. Vielmehr ist sie ein zartes Pflänzchen, das ich hegen und pflegen muss, um es wachsen zu lassen.
Vielen Dank fürs Schreiben, das war für mich sehr interessant. Ich wünsche dir weiter Kraft für das tägliche Aufrichten.
Danke für’s Lesen und die guten Wünsche.