Journal27022020
Melancholie legt sich zärtlich auf mein Gemüt. Vielleicht etwas hartnäckiger als früher.
Vielleicht mit mehr Gewicht.

Melancholie legt sich zärtlich auf mein Gemüt. Vielleicht etwas hartnäckiger als früher.
Vielleicht mit mehr Gewicht.
Am frühen Morgen gehöre ich noch ganz zu mir. Der Kopf ist leicht und frei, die Gedanken im warmen Bett oder hängen gar den Träumen nach. Der frühe Morgen, das ist meine Zeit.
Ein Morgen ohne Trödelzeit ist ein Verlust für mich. Ich mag diese Minuten am Morgen. Die Zeit rinnt ganz langsam dahin. Noch ist es ausschließlich meine Zeit, es sind meine eigenen Lebensminuten.
Aber dann, ganz plötzlich sind sie vorbei. Der Alltag tritt in den Vordergrund. Es kommt der Augenblick, von dem an ich mich beeilen muss, die Geschwindigkeit zieht an. Jetzt tritt die Außenwelt in mein Bewusstsein, jetzt ist es nicht mehr alleine meine Zeit. Ab diesem Zeitpunkt wird alles hochgeladen in mein Bewusstsein. Die Termine, die Aufgaben, die Probleme: die kleinen und die großen. Die Eigenheiten, die Menschen und die Launen, die mich erwarten werden.
Ganz plötzlich bin ich mittendrinn im Alltagskarussell. Es nimmt immer mehr Fahrt auf.
Viel Schwung, der am Ende des Tages erst wieder ganz lange ausklingen muss.
Bin ich besorgt? Ja, ich bin besorgt. Das Virus kommt näher, der Hass und der Faschismus traut sich seine schreckliche Fratze zu zeigen und tötet.
Alles vermischt sich.
Fast ist es wie bei Edgar Allan Poe und seinem Rotem Tod.
Wir tanzen einen Todestanz. Die Reichen, Wohlhabenden, Privilegierten sperren sich ein auf Inseln, die Europa oder wie auch immer heißen.
Aber das Virus findet seinen Weg. Es greift die Börse an. So dreist. Ringt den CO2 Ausstoß nieder, fährt dem Kapitalismus an die Karre.
So dreist.
Nur draußen da wütet der Faschismus weiter, die Nazis morden und die in die Parlamente gewählten Demokratiefeinde spielen ihr zynisches Spiel. Sie haben etwas zu gewinnen.
Unseren Leib und unsere Seele.
Ich möchte nicht einschlafen. Bin totmüde, aber nicht bereit meine Lesezeit zu opfern.
Wenn ich lese, dann ist das Leben nicht aus den Fugen geraten. Kann es doch gar nicht sein. Wie könnte ich sonst lesen?
Heute gesehen, dass der Buntspecht eigentlich zwei Buntspechte sind. Oder drei. Da bin ich nicht ganz sicher. Morgen werde ich nach der Arbeit also neue Futterstangen mit Nüssen mitbringen müssen.
In der Zwischenzeit stürmt es drinnen und draußen. Faschingszeit. Die gilt es zu überstehen und Kreppel sind da auch keine Lösung. (Im Allgemeinen schon, für mich leider nicht.)
Die Erinnerungen an Kuba lassen nicht locker und drängen sich in mein Gemüt. Keiner erzählt dir, dass Älterwerden so viel mit Herzschmerz zu tun hat.
So viele Orte zu vermissen, so viele Menschen obendrauf.
Jetzt verstehe ich auch warum die eine Nussstange auf dem Balkon so schnell aufgefuttert ist, obwohl die Meisen doch die innen aufgehängte bevorzugen.
Der Buntspecht macht sich über sie her. Im Gegensatz zum scheuen, schlanken Grünspecht, der seit Wochen immer nur sehr kurz und verschämt vorbeikommt, lässt es sich der Buntspecht so richtig gut schmecken.
Das Foto hab ich heute morgen gemacht. Am Nachmittag sah die Futterstange schon sehr abgeknabbert aus.
Es nimmt kein Ende. Wie auch. Sie bereiten den Boden gründlich und systematisch. Auf allen Ebenen. Die faschistische Saat geht auf. Die rassistischen Hasser morden. Die Frauenfeinde bringen sich in Stellung.
Die Morde des NSU, die Anschläge in Halle und Hanau, der Mord an Lübcke. Alles die gleiche Saat.
Dazu jahrelang ein problematischer Leiter des Verfassungsschutzes, für dessen Htung niemand die politische Verantwortung übernimmt.
Heute ist ein trauriger Tag. Gestern war ein trauriger Tag an dem so viele junge Menschen nicht mehr nach Hause kamen.
So viele junge Menschen, die nie wieder nach Hause kommen.
Irgendwie jüdisch schreibt dazu.
Ich bin die, die Euch immer auf die falsche Fährte lockt. Die, die die Nähe in die Ferne rückt.
Ich bin die, die nicht nur ihre Vogel-Futter-Bar nie im Instagram-Style präsentiert.
Ich bin die, die langsam vor dir hergeht und zum Himmel schaut.
Nachtrag: Hab bei Selim Özdogan ein schönes Zitat aufgesammelt.
Herz ist wie ein Notausgang. Lässt sich nur von innen öffnen.
Juan Moreno deckt die Lügengeschichten des preisgekrönten Reporters Claas Relotius auf und riskiert dabei um ein Haar seine Karriere und seine Existenz. Der Autor beleuchtet ein System der Eitelkeiten, der Miteinander-Verbandelten. Nebenbei und ungewollt erzählt das Buch auch eine Geschichte über Alltagsrassismus in Deutschland. In deutschen Medien.
Es dreht sich um ein Stück Zeitgeschichte bei dem niemand eine gute Figur macht. Niemand will die Lügen oder die Fälschungen aufdecken. Die Wahlheit ist zu wenig pittoresk für die Reportage im Gesellschaftsressort.
Es ist erschreckend zu sehen, wie wenig man Juan Moreno glauben wollte. Wie sehr er nachlegen musste. Immer mehr riskieren, weil nicht sein darf, was nicht sein soll. Ich kann mir nicht vorstellen, dass viele Kollegen diesen brisanten Weg gegangen wären. Es ist hoffnungslos, wenn alle des Kaisers neue Kleider loben und du alleine seine Nacktheit kritisierst.
Der Skandal kam zur Unzeit auf. Zu einer Zeit in der Medien eine vertrauensvolle Säule der Demokratie sein müssen, stürzte ein Medienhaus über seinen eigenen Ehrgeiz.
Juan Moreno hat das großartig aufbereitet.