Auf der Suche nach kommenden Zeit. Der Bonuszeit. Die, die es obendrauf gibt. Eine Generation vor uns hieß es „Das haben wir uns verdient.“ Gemeint war der RenterInnenkonsum in all seinen Ausprägungen. Es war die Kriegskindergeneration, die überzeugt war, dass ihnen das alles zusteht. Sie hatten viel mitgemacht in ihrer Kindheit und später in ihrem Leben viele Geheimnisse, viel Leid und zwiespältige Gefühle weitergegeben.
Ich empfinde im Moment tiefe Dankbarkeit, dass ich in diesem Lebensabschnitt ankommen konnte. Dass er gestaltbar vor mir liegt. Was für ein Geschenk!
Ein Zitat von Anaïs Nin: „Das Leben schrumpft oder dehnt sich aus, proportional zum eigenen Mut.“
Es ist vollbracht. Heute Mittag bin ich über die Ziellinie gekrabbelt und habe das fremdbestimmte Leben hinter mich gebracht. Pünktlich zum letzten Lebensabschnitt mit fast halbierten Einkommen, sagen sich hier täglich neue Kosten an. Eine Mieterhöhung, die mich ca. 2,5 Rentenpunkte kostet, eine teure Zahnbehandlung und gestern gibt mein Laptop den Geist auf.
Willkommen im neuen Leben.
Ich bin ziemlich schlaflos in diesen Tag gestartet, die Anspannung war wieder deutlich beim Gehen zu spüren. Den ganzen Tag war ich mit Kram beschäftigt und zum Schluss stellt sich heraus, dass ich die einzige Sache, die mir wichtig war im Büro vergessen hatte.
Es sind Wellen. Das habe ich nun verstanden und bin nicht mehr jedesmal verzweifelt, wenn mir heute das nicht gelingt, was gestern noch möglich war.
Mein Radius ist immer noch klein, aber ich erkämpfe mir Sicherheit zurück. Vertrauen in meine Gehfähigkeit. Noch eine Woche im Dienst liegt vor mir und dann kann ich mir die nächsten Kreise vornehmen. U-Bahn-Stationen zum Beispiel. Der Bahnhof wird noch länger warten müssen. Wenn ich den Hauptbahnhof wieder schaffe, dann bin ich wohl über den Berg.
So stelle ich mir das vor. Bei der Heilung spielt die Vorstellung eine größere Rolle als mir je bewusst war. Es war gräßlich, als ich jedes Wellental als Rückschlag ansah. Heute sehe ich den Heilungsprozess als sich abflachende Welle an. Das nimmt mir die Verzweiflungsmomente.
flüchtige Zeichen, die das Dunkel durchschneiden
wie Schatten einer zarten Pflanze,
die einmal Vertrauen war
Der Herbst zeigt sich von seiner fotogenen Seite. Er berührt mein Gemüt. Ich wünsche mir so sehr, dass ich die Kraniche noch sehe, aber es sieht so aus, als wären die meisten schon weg.
Ich bin immer wieder erstaunt, wie lange mich eine Kranich Sichtung glücklich machen kann. Dieses Jahr hätte ich dieses Gefühl gut brauchen können. Aber wer weiß, vielleicht sehe ich morgen noch welche.
Es geht jeden Tag etwas besser. Aber nun kommt der Teil, in dem ich nicht so gut bin: Jetzt nicht das Pensum erhöhen! Bloß nicht noch mehr wollen. Erst stabilisieren, dann kann es weitergehen.
Ich schreibe das hier auf, weil ich mir selbst nicht traue und das verbindlicher für mich haben möchte. Wenn ich etwas aus diesen vergangenen Wochen gelernt habe, dann dass es keinen linearen Heilungsprozess gibt. Das ist ungewohnt für mich.
Stabilisieren. Der Hauptbahnhof kann warten. Dort hat praktisch alles angefangen und an den kehre ich als letztes wieder zurück.
Von meiner Wohnung bis zum Büro finde ich eine Route, die nicht über den Bahnhof führt, mit dem minimalsten Aufwand an Überqueren von Kreuzungen. Zwei Straßenbahnen; ich wähle den Umstieg so, dass ich nicht über den Straßenverkehr aussteigen oder einsteigen muss. Das Risiko so klein wie möglich halten.
Ich schaffe es wankend und schwankend. Mit klopfendem Herzen. Das Gemüt in großer Aufregung.
In der Arbeit bewältige ich die stillen, difizilen Sachen konzentriert in Rekordzeit. Angelegenheiten im Personalbereich führen zu einer Übererregheit, die ich kaum aushalte. Zum ersten Mal fühle ich sozusagen bei laufender Aktivität, welche Lasten ich da die ganzen Jahre so selbstverständlich auf meinen Schultern trug.