Gestern schon die schockierende Nachricht über die Selbsttötung des Hessischen Finanzminister vernommen.
Das auch noch. Wenn schon Krise, dann aber richtig.
Das Wetter ist umgeschlagen. Kalt und windig. Wahrscheinlich bleiben dann mehr Leute zuhause.
Ich habe selten in meinem Leben so wenig gelesen, wie in den letzten vier Wochen. Keine Konzentration.
Irgendwo lese ich heute zum ersten Mal, dass der Einzelhandel es sich wünschen würde, wenn die Kund*innen beim Einkaufen Schutzmasken trügen.
„Sei höflich“, verabschiedet mich M gestern, als ich zum Einkaufen ging. Ich sah ihn fragend an. „Setz die Maske auf.“
Falls es mit der Wirtschaft bergab gehen sollte: Ich war es nicht! Hab die letzten vier Wochen gut das Zweieinhalbfache von dem ausgegeben, was ich sonst ausgebe.
Ich beneide sie um ein Herz, das imstande war, für den ganzen Erdkreis zu schlagen. (Simone de Beauvoir über Simone Weil)
Zahlen des Tages: 58 247 und 455, 8481 Genesene sowie 49.311 aktive Coronafälle
Die Buchung für Klagenfurt abgesagt. Die dritte Reise hintereinander abgesagt. Zum jetzigen Zeitpunkt ist es kaum vorstellbar, wann das mit dem Verreisen wieder gehen könnte.
Wann kann ich meine Familie wieder sehen?
Gestern las ich einen schlimmen Artikel über spanische Altersheim in dem das Militär Leichen fand. Sie ließen die Menschen alleine sterben. Das Personal war nicht mehr Vorort und da kein Besuche zugelassen sind, fiel das nicht auf. Es war mir unmöglich den Artikel weiterzuleiten. Keine Besuche bedeutet in so einem Kontext auch, dass die Patient*innen vor Machtmissbrauch schwer zu schützen sind.
Schlechtes Timing, um in einen Müllcontainer zu steigen. Mit elegantem Schwung werfe ich meinen Handschuh hinein und behalte meinen Müll in der anderen.
M trägt eine schwarze Schutzmaske. Mit seinem Hut und der Sonnenbrille sieht er aus wie ein Revolverheld aus einem Film.
Zahlen des Tages: 56 202 und 403, sowie 6658 Gesundete.
Zwischendurch vergesse ich, dass sich das Ganze Kontaktverbot nennt. Kontaktvermeidung passt für mich besser. Heute ist ein Tag, der sich nicht bereitwillig meinem Kontrollprinzip unterwirft. Zuerst gerät der dienstliche Teil außer Fugen und ich in wortlos in Rage.
Es hat durchaus seine Vorteile ohne Video- oder Präsenzmodus zu kommunizieren. Jedenfalls war ich fassungslos über das ausuferndende Zeitgefüge. Meine unsichtbaren Grimassen halfen nichts und nur meine gute Erziehung ließ mich bis zum Ende der Telefonkonferenz durchhalten und nicht zu dem Mittel greifen, das so verführerisch in der Luft lag: die Telko verlassen, denn rausgeschmissen wird ja doch andauernd jemand.
Kann sich denn niemand kurz fassen, solange ich auf Toilettenpapiermission bin?
Spulen wir einfach weiter, dann kann ich gleich zum Höhepunkt des Tages kommen: Der Vorrat von Klopapier ist aufgefüllt. Vierzehn Tage Quarantäne würden wir hoffentlich überstehen. Allerdings bereitet es mir Sorgen, dass mir gestern all die Menschen mit dem Küchenpapier entgegen kamen. Wenn nur 5% von denen das in die Toilette stecken, dann ist die Kacke sozusagen am Dampfen.
Heute zum ersten Mal mit Schalmaske unterwegs. Der Menschentrubel in der Berger Straße war so krass, dass es gar nicht anders ging.
Dann mit Schalmaske im vollen Supermarkt, sie lassen eine fast nur noch mit Einkaufswagen rein, was eine Frau zum Ausrasten brachte: Jetzt muss ich hier doch noch etwas anfassen!, rief sie. Verzweifelt. Wie es mir schien.
Mittendrin verlor ich mein Geld und fand es dann wieder. Es ist schwer, sich auf alles zu konzentrieren, wenn du nicht richtig atmen kannst.
Insgesamt würde ich schätzen, dass ein Drittel der Menschen mit Masken, Schals oder anderem Gesichtsschutz unterwegs waren.
Zahlen des Tages: fast 50.000 und mehr als 300 Tote 5673 genesen
Um sechs Uhr morgens durch die Geisterstadt zum Büro gelaufen. Es tauchen immer mehr Masken auf. Selbst gemachte und spezielle Masken. Schwarz, weiß, bunt.
Auf dem Rückweg klappere ich fünf Supermärkte und vier Drogerien ab. Jeder Markt hat nun ein anderes Zutrittsmodel. Meistens zwingen sie einem jetzt einen Einkaufswagen auf. Ein einziger Markt desinfiziert die Wägen nach Gebrauch. Keiner hat Toilettenpapier. Dafür gibt es an einem mehrere große Schilder mit dem Hinweis, dass es in Deutschland keinen Toilettenpapiernotstand gibt. Ich hab seit drei Wochen keins mehr in einem Geschäft gesehen. „Morgen früh um sieben kommt welches“, sagt mir jemand. Morgen früh bin ich dienstlich verpflichtet.
Sieht so aus, als gäbe es da zwei Welten, die nicht zueinander kommen.
Zahlen des Tages: 43.000 und 239 und 3600 sowie 5600 Gesundete
Gestern machte sich dienstlich die Erkenntnis breit, dass zum Ende der Osterferien nicht alles in Butter sein wird. Heute war ins dienstliche Bewusstsein gesickert, dass es eventuell eine wellenförmige Ausstiegsstrategie geben wird. Und dass diese eine gefühlte Ewigkeit dauern würde.
Die Gewinnung von Erkenntnissen passen sich dem Exponentialformat der Infektionskurve an.
Zuhause ist das etwas anders. Würde ich eine mentale Landkarte meiner Gefühle in diesen Zeiten zeichnen, dann gäbe es dort ganze Gebirgszüge der Furcht. Mit Abgründen und Gletscherspalten sozialer Kälte. Es gäbe Traumlandschaften mit Panoramablick in eine bessere, sozialer und gesündere Welt. Es gäbe Einsiedeleien zum Tanken spiritueller Energie, Hotspots zur medialen Kontaktaufnahme. Seen zur Kontemplation und Wiesen zum Rasten.
In der Realität weichen die Menschen sich vorsichtig bei der Begegnung aus.
Am Telefon sagt jemand kichernd zu mir, treffen darfst du dich jetzt nur noch mit Menschen treffen, die du nicht leiden kannst.
Zuhause. Kontaktverbot zweiter Tag. Kein Ende in Sicht. Dienstlich macht sich die Erkenntnis breit, dass Lösungen für die Zeit nach den Osterferien gesucht werden müssen.
Der Frühling lacht uns aus. Mit kaltem Wind und strahlendem Himmel.
Beim Einkaufen hab ich einen Kloß im Hals. Handschuhe trage ich dabei, damit ich mich sicherer fühle. Schon seit Wochen.
Der Bus fährt um die Ecke, er ist ganz leer. Der Fahrer sitzt schon eine Weile hinter dem Absperrband. Gestern standen in der Apotheke, die Frauen mit einem durchsichtigem Gesichtsschutz. Wie bei Feuerwehrmenschen nur ohne Helm. Es sah schick aus. Improvisiert und cool.
Trauen Sie nur den seriösen Quellen, sagen sie. Kampf gegen die Fakenews, sagen sie. Informieren Sie sich, sagen sie.
Für die Informationen rund um Infektionskrankheiten ist in Deutschland das Robert-Koch-Institut zuständig. Ganz formell und offiziell. Aber es macht eine schlechte Figur in diesen Tagen. Eine ganz schlechte Figur. Letzte Woche verschätzen sie sich bei der Berechnung des Anstiegs der Corona-Infizierten-Zahlen. Am Wochenende veröffentlichen und verbreiten sie Zahlen, deren Informationsgehalt sie später abschwächen mit dem Hinweis, dass am Wochenende weniger Meldungen von den Gesundheitsämtern eingehen. An dem Wochenende an dem die Bundeskanzlerin und die Länder entscheiden, ob es schärfere Maßnahmen gegen die Verbreitung des Covid 19-Virus braucht!
Heute verbreitet der Präsident des RKI, dass sich nicht alle Menschen an die Regeln halten. Woher nimmt er diese Expertise?
Ach ja, und ihre eigenen Regeln dafür wie medizinisches Personal nach dem Kontakt mit einem Coronavirus-Infizierten umgehen kann, falls Personalmangel herrscht, die hat das Robert-Koch-Institut jetzt auch verändert. Aufgeweicht passt besser: Unter anderem könnten Betroffene dann nur sieben statt 14 Tage in häusliche Quarantäne oder unter bestimmten Bestimmungen sogar arbeiten.
Regeln dieser Qualität könnte auch ich aufstellen. Lasst mich mal ran. Das kann ich auch.
Zahlen des Tages: 30 000 und 118 und 422 Genesungen
Meine Selbstberuhigungsstrategie wirkt. Ich mache mir wegen dem Virus erst wieder Sorgen, wenn er es in meinen inneren Zirkel schafft.
Für meine sich sorgende Seele gibt es schließlich noch genügend andere Themen in dieser Welt. Ist ja nicht so, dass einem die Sorgen ausgehen müssen. Trotz Sorgenhamsterei.
Der Frühling lacht uns aus.
Er haut uns unter blauem Himmel die Kälte und die Viren um die Ohren.
2013 klang das bei mir noch so:
auf das Frühjahr wird immer gewartet weil es die Illusion mit sich bringt dass sich jemals etwas ändern könnte
Bildbeschreibung: Balkonkräuter vor grünem Hintergrund, leicht verdeckt eine blaue Glaskugel
Ausgangsbeschränkungsbalkonblick
Es ist kalt draußen und der Wind pfeift und heult um die Häuser. Heute passt das Wetter besser zum Zustand der Welt.
Passt gut auf Euch auf Ihr Lieben. Es ist eine besondere Zeit. Wir brauchen uns alle noch.
Zahlen des Tages kenne ich noch nicht. Aber jetzt weiß ich, dass es noch eine dritte wesentliche Zahl gibt, die der Menschen, die wieder gesund geworden sind.
Drei Stunden Schlaf heute Nacht. So langsam wird es kritisch mit mir. Heute morgen entschieden, dass ich mich nicht weiter sorge, denn krank ist noch keine von meinen Lieben. Falls ihr jetzt meint, daß ließe sich nicht so einfach entscheiden, muss ich widersprechen.
Manchmal klappt das. Deshalb ist es jetzt auch gerade meine Handbremse. Wo sollte das sonst noch enden?
Beim Einkaufen halte heute alle Abstand. Auf 1,5 m kommt er zwar nicht, aber einen guten Meter halten alle ein. Das beruhigt. Draußen das schönste Frühlingswetter. Wie jedes Jahr und doch so anders.