Cover mit einem Foto von Christa Wolf in jungen Jahren mit Jacke und den Händen in den Jackentasche des Bandes Ein Tag im Jahr 1960 – 2000
Manchmal finde ich es schade, dass die Sammelmappe für mich kein Tagebuch-Blog im herkömmlichen Stil sein kann. Aber diese Entscheidung ist vor langer Zeit gefallen. Hier kann es immer nur um mich oder um überpersönliche Dinge gehen. Zu groß ist sonst die Gefahr unabsichtlich die Grenzen von anderen Menschen zu übertreten.
Die Bahnhofsuhr am Eingang des Hauptbahnhofs zeigt 6 Uhr 38 an. Es ist dunkel, die Bahnhofshalle ist beleuchtet, Personen laufen durch die Eingangstür zur Halle.
Auch heute könnte ich meinen Müdigkeitspost fortsetzen. Immer weiter schlafen wäre ein Traum.
Ich könnte ein Müdigkeitstagebuch schreiben. Tag um Tag, Nacht um Nacht. Mich macht alles müde: das Büro, die Welt, das Wetter, die Menschen, die Luft.
Die Freude, die Traurigkeit, die Angst und die Hoffnung, das Gestern und das Morgen.
In mir wächst die Müdigkeit von Generationen an. Kleine Müdigkeitspflanzen entwickle ich schleunigst zu einem Müdigkeitsdschungel.
Blick in der Nacht aus dem Fenster auf den Vollmond hinter den Bäumen. Die Lichter vom Riederberg und von der Autobahn sind zu erkennen. Auch ein paar wenige Sterne.
Wütend. Weil der Stinkefinger der Mittelschicht so überheblich und arrogant in eine Richtung zeigt.
Politik ist auch das, was ihr jeden Tag lebt. Schon vergessen?
Wer nimmt einen unterwürfigen Proleten ernst? Nicht mal einen würdigen Namen habt ihr noch dafür.
Unterschicht. Bildungsferne Schicht. Hartz4ler. Altersarmut. Kinderarmut. Obdachlose. Wohnungslose. Unschuldig in Not-gekommene. Tafel-Gängerinnen. Kundinnen bei der Arbeitsagentur. Menschen mit Migrationshintergrund. Clan_Familien. Überhaupt: Problemfamilien und Problemkinder.
Ich bin stinkwütend über diese Arroganz und Überheblichkeit. Über die Super-Heldinnen-Geschichten und die globale Mittelstandsvernetzung.
Wer erzählt denn die Geschichten der Gedemütigten und der Stillen? Wer bestimmt die Rahmen und wer legt das Punktesystem fest?
Wie so oft vergesse ich vor lauter Sehen und Hören das Fotografieren. Später werden sie mir fehlen, die ungemachten Fotos. Die visuellen Erinnerungen werden sich ihre eigene Vorstellung kreieren. Mit viel Phantasie weit ab vom Wahrheitsrand.
Ich bin hier. Ich bin ich. Ich bin ein sehendes und hörendes Etwas. Ein Wesen auf Input eingestellt. Solange bis alles zuviel wird und sich die Schotten schließen.
Diese Woche schaue ich nicht nach rechts. Denn dort ist es viel zu ungemütlich. Ich schaue in die Welt und darüber hinaus.