Journal25092021
Kann sein, dass ich mich auf- und losgelöst habe in diesen Tagen. In einen bisher unbekannten Aggregatszustand verwandelt. Leicht über dem Boden schwebend.

Kann sein, dass ich mich auf- und losgelöst habe in diesen Tagen. In einen bisher unbekannten Aggregatszustand verwandelt. Leicht über dem Boden schwebend.

Alle Wege führen führen uns instinktiv zum Meer. Es ist laut und meine Verdauung gibt mir einen eigenen Rhythmus vor. Schnell begreife ich, dass Widerstand zwecklos ist. Mein Darm zeigt keinerlei Charme, er zeichnet sich aus durch sein autoritäres Gehabe.
Was soll’s. Ich lege mich hin und lese. Dabei bin ich gut aufgehoben.
In einer Atmosphäre voller Leichtigkeit. Ich hab die Sorgen vergessen. Sie abgestellt, irgendwo auf dem Weg hierher. Sie werden sich wieder melden und mit Wucht auf meine Schultern springen. Aber hier und heute sind sie verloren.
Abgetaucht.
Dem Meer entgegen gefahren. Frankfurt – Marseille ist immer eine Zug-Traum-Reise wert.

Vor kurzem las ich einen Artikel darüber wie wir unseren Urlaub in der Konsumgesellschaft inszenieren und warum das so oft schief geht. Da ich bis zur Pandemie meine Urlaube mit Hingabe zelebriert habe, weiß ich sehr genau, wovon der Artikel handelt. Von dem großen Unwohlsein im fremdbestimmten Arbeitsleben. Bei mir wird das noch verstärkt dadurch, dass die Arbeitswelt mit introvertierten Menschen erst recht den Schleudergang einlegt. Daher heißt für mich Urlaub oft: Ruhe, Ruhe, Ruhe.
Und Entfernung.
Und danach noch ein bisschen Ruhe, Ruhe, Ruhe.
Und ein bisschen Luft.
Und Wasser.
Und Ruhe, Ruhe, Ruhe.
Symbolische und metaphorische Ruhe. Die andere nehme ich.
Vor unserem Appartement tanzen vier Baukräne wilde Choreographien.
Aber die können mir nichts.
Ich schaue über die Stadt und spüre Ruhe.
Dem Meer entgegen fahren. Raus, raus, raus aus diesem Leben. Die Pausentaste drücken und mich in den Zug setzen. Morgen. Weiß gar nicht mehr so richtig wie das geht. Der Koffer sieht mich etwas zickig an, aber ich zicke selbstbewusst zurück.
Dem Meer entgegen.
Es ist eine spezielle Begabung, das Glück in jeder seiner Erscheinungsformen zu erkennen.
Manchmal tarnt es sich und macht erst durch seinen Abgang auf seine Anwesenheit aufmerksam.
Aber ich lenke ab. Ich weiß jedes kleines Zipfelchen Glück zu schätzen, was mich allerdings nicht davor bewahrt, die Last des Lebens besonders intensiv zu spüren. Manchmal sehe ich nach rechts und links und sehe Menschen, die unbeschwerter durchs Leben gehen. Was ist das nur bei mir, das alles so beschwerlich macht?
Die Frage stellt sich nur noch rein rhetorisch, ich bin sehr im Reinen mit meiner Persönlichkeit. Ich nehme mein Lebenspäckchen so wie ich meinen Alltagsrucksack packe: Da sind immer ein paar Sachen mehr drin, als unbedingt notwendig sind. Sachen zum Trösten, Dinge zum Aushelfen, was zum Lesen, zum Essen, zum Verarzten und manchmal auch Sachen, die ich einfach mag.
Ein bisschen mehr für den Alltag, für die Reise gilt: nie mehr als du tragen kannst.
Der größte Unterschied zwischen der Senorin, die ich seit ein paar Wochen bin, und der jugendlichen Person, die ich einst war, besteht in der Anziehungskraft, die Menschen auf sie ausübten / ausüben.
Oh, wie mich die bestimmte Menschen – oder fiktionale Figuren – anzogen! Wie viele Träume sie auslösten! Wie viel Liebe!
Jetzt kümmere ich mich mehr um meine Höhle. Um den perfekten Fensterblick. Die Schäfchenwolken tanzen für mich. Menschen in meinem Leben sind Kostbarkeiten. Manchmal zerbrechlich und fragile. Auf keinen Fall austauschbar.
Langsam, aber stetig überschritt ich die Grenze, die die junge Person von dem heutigen Ich abschneidet.
Es ist nicht ganz klar, wann ich das Fliegen verlernte.
Es ist mir nicht gelungen, die Traurigkeit aus dem Herzen zu seufzen.
Das Leben ist gerade sehr bitter. Es ist anstrengend die Fassade zu wahren. Und noch anstrengender die Angriffe abzuwehren.
Es bleiben kaum Worte übrig. Jedenfalls keine die wirklich zählen.
Die Last der Welt, sie teilt sich nicht.
Auf dem Messplatz ist die Dippemess aufgebaut. Mit Riesenrad, Achterbahn und riesigen Kränen, die sich um alle Achsen drehen. Ein Hauch von Pandemie weht über das auf 5.000 Menschen beschränkte Gelände. Das Leben geht also weiter.
Im Pflegeheim wird immer noch streng separiert. Pech, wenn deine Gesprächspartnerin aus der anderen Gruppe ist. Da seht ihr euch erst im nächsten Leben wieder.
Ich taste mich durch das neue Leben mit wunder Seele. In der Arbeit lege ich Regeln streng aus, im Privatleben habe ich das Privileg, nach meiner eigenen Risikoabschätzung zu leben zu können. (Also vorsichtig.) Das ist mehr, als viele andere Menschen im Moment an Freiheit und Sicherheit haben.
In meinem Terminkalender taucht neuerdings wieder eine unbekannte Spezies von Terminen auf. Private Treffen, die nicht zur Kategorie Familienorganisation gehören. Ich bin in dieser Hinsicht ganz aus der Übung.
Habt ihr schon gesehen, wie sehr der Kalender 2021 zusammenschrumpft?
Vielleicht gibt es im Oktober ein Kartoffelfeuer. Mich würde das sehr glücklich machen.
Das letzte fand vor drei Jahren statt. Ich liebe es, wenn die Funken in den Himmel fliegen. Sterne von oben und unten. Alle guten Wünsche fliegen in die Welt.
Fokussieren. Wie ging das noch mal?
Nächste Woche ein Ausnahme-Diensttermin von dem unglaublich viel abh?ngt. Aber niemand kennt das Format in diesem Kontext. Also keine Vorbereitung möglich.
Tiefer Seufzer.
Nachrichten hören.
Tiefer Seufzer.
An die Eltern denken. An den Drahtseilakt und möglichst nicht an das was kommt.
Seufzen. Ausgiebig und tief.
Urlaub planen. Letzter Ausgang zur mentalen Gesundheit. Ein Verkrümelurlaub. Regenerieren als Zwischenziel.
Luft holen. Aufatmen.