Journal01072020

Ein Alltag, der wahllos lebendig macht.

Lyrik tröstet mich durch die Tage. Vor einigen Jahren besaß ich eine Werksausgabe der Gedichte von Sarah Kirsch. Ich trug sie zum Bücherschrank an der Ecke wie so viele Bücher. Eine Maßnahme gegen meine Stauballergie und meine Besitzstandshaltung. Bücher, die in Bibliotheken zu leihen sind, braucht eine nicht zu besitzen. Denke ich heute immer noch. Selbst seit ich weiß, dass die Stadtbücherei tatsächlich viele Werke von bekannten Frauen gar nicht oder nicht mehr in ihrem Bestand hat. Von Sarah Kirsch würde ich jetzt gerne ihr Allerlei Rauh lesen. Gibt es nicht. Von Marlen Haushofer wollte ich gerne eine bestimmte Biografie lesen. Gibt es nicht. Die Tapetentür. Gibt es nicht.

Marlen Hausdorfer wäre im April 100 Jahre alt geworden. Eine Werksausgabe: Gibt es nicht.

Ich könnte das endlos fortsetzen.

Aber lieber stelle ich Beschaffungsanträge, damit wenigstens die Neuerscheinungen von Autorinnen in der Bestand der Büchereien kommen.

Journal30062020

Ich trage die Aufzeichnungen aus der Vor-Corona- und Anfangs-Corona-Zeit nach und wundere mich, wie lange es dauerte, bis wirklich gehandelt wurde. Sieben gefühlte Tage ergeben sieben Wochen. In der Zwischenzeit haben sich meine wundgelaufenen Füße an zehn tägliche Kilometer Stadtgang gewöhnt und meine Virenphobie gewöhnt sich an die Fahrten gemeinsam mit Mitreisenden die kreativen Mund-Nasen-Schutz betreiben. Was sich bisher nicht ändert ist der Ärger über Schifahrende Pandemiereisende und Regierungen, die keine Katastrophenvorsorge betreiben. Oder Gesundheitsministerien, die den Infektionsschutz nicht im Griff haben.

Ansonsten bin ich heute versöhnlich, melancholisch gestimmt. Es gibt schlechte Nachrichten, die durch ihre Wiederholung eine Traurigkeit in mein Leben bringen. Dinge, die sich nicht ändern lassen, aber in der Seele weh tun.

Die Grünen Wipfel

Tanzen im Sommerwind

Hörst du das Kindergeschrei?

Journal29062020

„Durch Ruhe und Ordnung kann die Demokratie ebenso gefährdet werden wie durch Unruhe und Unordnung.“

Hildegard Hamm-Brücher

Irgendwo dazwischen, zwischen diesen Polen, scheint die Demokratie sich abzuspielen. Aber vielleicht sind ihre guten Tage längst vorbei.

Vielleicht haben wir nicht intensiv genug über Freiheit geredet. Der Freiheitsbegriff liegt verrottet als Konsumfreiheit getarnt in der Vitrine.

Journal28062020

Mehr als 10.000.000 Infektionen und fast 500.000 Tote weltweit. In der Zwischenzeit rechnet sich Deutschland die Zahlen schön und erfindet kreative Erklärungsansätze. Tatsache ist und bleibt: die Zahlen steigen. Wir nehmen Fahrt auf.

Ich verkrieche mich in meinen Büchern und lese viel gleichzeitig. Mal hier, mal dort, alles was ich kriegen kann. Nicht dass ich mich besonders konzentrieren könnte, aber das ist auch nicht so wichtig. Hauptsache lesen.

Bin wieder an Bord

Hilft ja nix. Die Pandemie nimmt ihren menschengesteuerten Verlauf. So oder so. Egal wie sehr ich hadere. Mit Ansage sind wir in diese Pandemie hineingesteuert, mit Ansage steuern wir jetzt auf ihre Fähigkeit alle in Bann zu halten zu.

Die bittere Quittung dafür, dass nie auf der Agenda stand, das Virus auszumerzen. Ich nehme die Quittung an und gehe wieder an Bord. Wo sollte ich auch sonst hin in diesen Tagen.

Journal24062020

Mag immer noch nicht richtig weiterbloggen. Obwohl es ein paar Dinge zu dokumentieren gibt.

Den Montag zum Beispiel, als ich schon aus der Ferne beim Ankommen zum Büro sah, dass etwas passiert sein muss. Kein Fenster offen weit und breit. Das ganze Gelände abgesperrt. Unser Eingang sei ein Tatort, sagte der Polizist. Ein Tatort ohne Fernsehen. Später kam ein Reinigungsteam und hat alles Blut weggeschrubbt. Die hellen Flecken bleiben. Von der Ecke am Eingang bis zur Schranke beim Busbahnhof. Nach zwei Metern wird der Fleck immer etwas größer. Es ist gruslig, das zu sehen.

Corona ist eine Welle näher gekommen. Hat den Pflegedienst der Lieben erreicht. Es wäre allerdings zu viel verlangt, die Betroffenen zu informieren.

Was für eine Zeit!

Wochenticker

Ist ja nicht so, dass es nichts weiter zu berichten gibt, nur weil ich Blogpause mache.

Montag: Dankbar und gerührt über die Tatsache, dass Hessen zum ersten Mal keine Neuinfektionen und keine neuen Toten meldet.

Dienstag: Gemerkt, dass die Null Endungen einem Fehler geschuldet sind. Am frühen Morgen in der sonst menschenleeren Stadt viele Polizisten gesehen, einige grüßten mich, erst am Abend den Zusammenhang mit dem Mordprozess gegen Walter Lüpke erkannt, das war wohl die Einheit, die lange vorher das Umfeld um das Gerichtsgebäude in Augenschein nahm.

Mittwoch: Hektik vor sechs Uhr morgens und Angstausbrüche, falscher Alarm, wöchentliches Schwesternzerimoniell,

Donnerstag: Erster Tag der Lesungen zum Bachmannpreis mit spannenden Autorinnen.

Freitag: Gestern mehr als 60 Neuinfektionen in Hessen. Soweit waren wir Mitte Mai schon mal. Wie gut, dass gestern die neuesten Lockerungen verkündigt wurden. Die Schulen machen nach den Sommerferien ohne Abstandsregeln weiter. Wer denkt sich diesen Schwachsinn aus.

Auch Freitag: Drei Runden Pech bei den Lesungen aus Klagenfurt. Hat wohl nicht sein sollen.

Samstag: Im Navajo-Reservat ziehen die Infektionen ihre tödliche Kreise. Sie sind stärker betroffen als jede andere Region. Da das Reservat über mehrere Staaten verteilt ist, geht das aus den üblichen Statistiken nicht so hervor. Jetzt schließt die Navajo-Times für zwei Wochen, weil es auch bei ihr Covid-19 Fälle gibt.

Lesungen zum Bachmannpreis – Tag 3

Lydia Haider eingeladen von Nora Gomringer

Also das Tier sieht rot wie dein Blut rot steht in deiner Bauform Freund, wenn du den Braten einstichst mit dem Messer oder der Rotwein dir aus der Hand geht und das Tischtuch färbt wie so Rosen und Nelken in’s Grab geworfen letztlich, weil’s nicht anders geht noch kann, muss es sein dir in dein Sehen zu ziehen mit Untrost direkt und wahr gemäß der Rotheit des
Hundes


Puh, harter Stoff am Morgen. Die Performance führt zur furiosen Horrorstimmung. Hass und Mordlust. Faschismus in Literatur umgesetzt. Gebellte Sprache. Rausgeschrien. Geflüsterte Drohungen. Teuflische Einflüsterer. Rot. Blutrot. Grausam.

Der Jury gefällt der Text nicht. Es fällt der Ausdruck Machtergreifungssprache.

Laura Freudenthaler eingeladen von Brigitte Schwens Harrant

Der heißeste Sommer seit Beginn der Aufzeichnungen ist mein schweigsamster. Ich sitze auf der Holzbank vor dem hinteren Tor und warte. Die Wunden an meinen Lippen heilen langsam.

Unaufgeregter Text, der sich langsam ins Herz und in die Seele gräbt. Die Welt geht unter, die Katastrophen nehmen ihren Lauf, das Feuer wird gestohlen. 

Katja Schönherr eingeladen von Philipp Tingler

An Neles Geburtstagen bin ich immer sehr nervös, nervöser als sonst. Schließlich tickt nicht nur meine, sondern auch ihre Uhr schneller als die der meisten Menschen.

Meine Gedanken schweifen ab. Und wieder dazu. Eine Geschichte mit einem Mysterium. Einem banalen noch dazu. Mir gelingt die Trennung des Textes von dem einladenden Juror nicht. Nicht mehr nach diesen drei Tagen. Wenn sie bei 3sat auf Talkshow machen wollen, d. h. wegen der Einschaltquoten auf polarisierend machen wollen, dann haben sie mich verloren.

Wie befürchtet tritt der Juror sofort auf die Bühne, die ihm nicht zusteht. Zwischen den Zeilen lesen ist nicht sein.



Meral Kureyshi eingeladen von Michael Wiederstein

Als es still wird, so still, dass die Gedanken laut werden, der Mund trocken, die Zunge schwer,  verlasse ich die Wohnung. Die Mondsichel leuchtet hell im Dunkel des Himmels, so wie ich sie als Kind gezeichnet habe.

Ruhiger Text. Ruhige Lesung.

Mir geht viel durch den Kopf. Vor allem zum Thema Privilegien. Das liegt eher am Setting als am Text.

Die TDDL gehen zu Ende. Ob es im nächsten Jahr sicher wäre hinzufahren, steht in den Sternen und in der Mondsichel.

Ich vermisse den Garten. Obwohl er so schwer zu erreichen war. Vielleicht ist Reisen doch Erhebender als ich es mir eingestehen will.



Lesungen zum Bachmann Preis 2020 – Tag 2 Nachmittag

Neues Spiel, neues Glück. Ich höre wieder zu.

Matthias Senkel eingeladen von Hubert Winkels

Hugo Spilhaus, der das wiedererrichtete Inselgehöft gepachtet und die Scheune in eine Herberge umgewandelt hatte, versuchte, dem Warenzer Findlingskreis den Namen Drachengelege anzuhängen: Bei den vier vermeintlichen Irrblöcken handele es sich in Wirklichkeit um die Eier des letzten mecklenburgischen Drachenweibchens.

Okay, heute vom Pech verfolgt. Bei der schlechtesten Lesung bin ich ungestört. Gestern habe ich etwas als Häppchenliteratur beschrieben. Ich nehme das zurück und stelle die Häppchen hierher. Ich stricke dann mal eine Runde.

Levin Westermann eingeladen von Hubert Winkels

Mein Pech geht heute in die dritte Runde, der Magen grummelt und mit ihm noch andere Organe. Werde also nachlesen und nachschauen müssen.

Lesungen zum Bachmann Preis 2020 – Tag 2 Vormittag

Helga Schubert eingeladen von Insa Wilke

Sie wollte, dass ich über sie eine Geschichte schreibe. Hast du mit der Geschichte nun endlich angefangen, fragte sie mich, als sie schon über 100 war. Aber wie sollte ich über sie schreiben, als sie noch lebte.

Ganz Twitter schwelgt in Rührung. Ich finde den Text gut, aber er geht mir nicht so nah. Seltsamerweise genau darum, weil ähnliche Erfahrungen aus meiner Elterngeneration mein ganzes Leben prägten. Und die sind mir näher. Trotzdem: schöner Text, sympathische Autorin, gut gelesen, toll erzählt.

Hanna Herbst eingeladen von Insa Wilke

Du hast mir erzählt die Geschichte eines Pessimisten, dem gute Dinge passierten, die nicht gut waren, weil er Pessimist war.
Und ich dir die vom alten Säufer, der, wenn die Bar leer war, die Feuerwehr rief, um nicht alleine trinken zu müssen.

Mitten in der Lesung von Hanna Herbst zieht das dienstliche Unwetter herauf. Donnergrollen und Blitze. Das Unwetter für dieses Mal abgewendet. Aber es wird näher kommen, das ist gewiss.

Zwei Lesungen auf dem Dienstaltar geopfert.

Egon Christian Leitner eingeladen von Klaus Kastberger